Danke netzpolitik.org
Vor über 20 Jahren habe ich netzpolitik.org gegründet, weil ich leidenschaftlich daran glaube, dass eine bessere digitale Welt möglich ist und wir dafür kämpfen müssen.
Als ich 2003 startete, befanden wir uns in den ersten Anfängen der Blogosphäre. Wir vernetzten uns über Verlinkungen. Die großen Plattformen, wie wir sie heute kennen, gab es noch nicht. Ich kam aus dem Aktivismus und sah meine Rolle darin, Knotenpunkte in einer neuen vernetzten Öffentlichkeit zu schaffen, über diese Informationen zu teilen, und so mehr Menschen für den Erhalt und Ausbau von digitalen Grundrechten zu mobilisieren und zu demokratischem Engagement zu bewegen.
Diese Zeit bot große Möglichkeiten für alle, die wie ich mit einer Faszination für Medien aufgewachsen waren: Wir konnten auf einmal publizieren ohne jemanden um Erlaubnis zu fragen. Wir konnten uns das Wissen dazu selbst erarbeiten – mit der richtigen Motivation und einem Verständnis für Technik.
Die Werte der Open-Source-Welt verschafften mir eine andere journalistische Perspektive darauf, was in unserem gesellschaftlichen Umgang (und Diskurs) mit Technik möglich ist: eine offene, vernetzte und kollaborative Netzpolitik - sowohl inhaltlich als auch in der praktischen Anwendung. Diese Werte haben auch unsere Arbeit hier konsequent geprägt: So war es mir zum Beispiel später wichtig, dass wir so transparent wie möglich bei der Finanzierung sind.
Die Entstehung eines neuen Politikfelder beobachten
Ich hatte das Privileg und das Glück, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Und dabei die Entwicklung eines neuen Politikfeldes und die Entwicklungen unzähliger Debatten hautnah beobachten und mitprägen zu können.
Bereits Ende der 90er gab es diverse Überwachungsdebatten, die digitale Verwaltung wurde schon versprochen und bald sollte es Breitbandinternet für alle geben. Seitdem komme ich mir häufig wie bei “Und täglich grüßt das Murmeltier” vor. Von Glasfaser träume ich immer noch und die digitale Verwaltung kenne ich eigentlich nur aus der Terminvergabe in Berlin.
Ich muss manchmal schmunzeln wenn ich daran denke, dass zu den Anfängen von Netzpolitik für das Internet mitverantwortliche Spitzenpolitiker:innen nicht wussten, was ein Browser ist; dachten, das Internet funktioniere so wie eine Telefonanlage und sich auch gerne vor laufenden Kameras darüber freuten, dass ihre Assistent:innen das Internet für sie bedienen (und ausdrucken) konnten.
Wir Netzbewohner:innen waren die “Internet-Freaks”, die man belächelte und mit denen man lange nichts zu tun haben wollte. Viele hofften viel zu lange, das Netz werde als “Trend” schnell wieder verschwinden. Die meisten haben dann doch noch den Aufbruch dorthin geschafft.
Debatten kommen und gehen - viele bleiben (leider)
Viele Debatten haben sich seitdem verändert oder sind verschwunden. Wer erinnert sich noch an “Raubkopierer sind Verbrecher” und irrsinnige Forderungen, wie die danach, Menschen das Internet für Filesharing wegzunehmen? Legale funktionierende Alternativen, wie wir sie heute mit Spotify, Netflix und Co. haben, gab es damals noch nicht. Computerspiele waren früher “die Killerspiele” und gelten mittlerweile als Kulturgut. Die Netzneutralität haben wir in andauernden Kämpfen schützen können, müssen aber immer noch wachsam sein.
Andere Debatten sind immer geblieben oder tauchen wie Zombies regelmäßig wieder auf. Digitale Vernetzung und die Möglichkeit von Datensammlungen haben schon immer die Phantasie aller Innenpolitiker:innen angeregt. Was technisch möglich ist, weckt Begehrlichkeiten der Überwachung. Vor allem, wenn es kaum Debatten darum gibt und große Teile der Gesellschaft die Auswirkungen technisch und rechtlich nicht verstehen. Ich werde mich immer dafür einsetzen, einen Ausbau von Überwachung konsequent zu bekämpfen, dort, wo sie rote Linien überschreitet und unsere Grundrechte und damit unsere Freiheit gefährdet.
Geändert hat sich vor allem die Infrastruktur. Die Träume von Dezentralität, Offenheit, Demokratie und Freiheit sind der Realität der Plattformökonomie mit ihren Lock-In-Effekten und Skaleneffekten zum Opfer gefallen. Was mir häufig den Schlaf raubt, sind Fragestellungen, wie wir trotz dieser Dominanz weniger Unternehmen, die unsere Kommunikationsinfrastrukturen kontrollieren, gemeinwohlorientierte Alternativen schaffen und ausbauen können. Welche Rahmenbedingungen sind dafür notwendig und wie kommen wir dahin?
Letztendlich geht es immer um Machtfragen und darum, wie wir unter veränderten Rahmenbedingungen Demokratie erhalten und ausbauen können. In den letzten 20 Jahren meines Lebens war netzpolitik.org eng mit meiner Identität verbunden.
Nach derzeitigem Stand habe ich nun mindestens weitere 20 Jahre bis zur Rente. Ich finde, dies ist ein guter Zeitpunkt für mich, etwas Neues zu erleben und zu gestalten – und die nächste Netzpolitik-Generation ihre eigenen Impulse setzen zu lassen.
Was kommt jetzt?
Ich möchte zunächst Raum für Experimente und neue Kollaborationen schaffen, denn ich bin überzeugt, dass wir im Kampf für eine bessere digitale Welt jetzt ganz neue Ansätze und Partnerschaften brauchen. Welche Allianzen sollten wir als digitale Zivilgesellschaft jetzt schmieden, welche Brücken in die Gesellschaft jetzt bauen oder erweitern, damit wir gesellschaftliche Mehrheiten und die richtigen rechtlichen und medialen Rahmenbedingungen für eine lebenswerte digitale Welt schaffen können? Wie können wir unsere Anliegen noch besser kommunizieren, um mehr Menschen zu erreichen? Das werden meine Leitfragen sein.
Einen Teil meiner Zeit werde ich weiterhin für die re:publica einsetzen und sie als einen zentralen Ort für die Debatte über die digitale Gesellschaft ausbauen. Für die nächste Ausgabe Ende Mai kuratieren wir unter dem Motto “Who Cares” wieder ein riesiges Programm mit vielfältigen Fragestellungen und Perspektiven auf den Bühnen der Station Berlin.
Weil mich umtreibt, wie sich unser Journalismus weiterentwickeln und verlorenes Vertrauen in Zeiten zunehmender Polarisierung zurückgewinnen kann, entwickle und kuratiere ich zusammen mit dem Bonn Institut für konstruktiven Journalismus seit dem vergangenen Jahr das “b future festival für Journalismus und konstruktiven Dialog ” in meiner alten Heimatstadt. Anfang Oktober findet die zweite Ausgabe statt und bringt eine große Community an Menschen zusammen, die Journalismus neu denken und praktizieren wollen.
Um an die Leichtigkeit und Freiheit des Bloggens und Kommentierens von früher kreativ anschließen zu können, werde ich einen Newsletter starten, für den Ihr Euch hier eintragen könnt. Und ich habe Ideen für verschiedene Podcast-Formate, zu denen ich bisher nicht kam und die ich endlich umsetzen will. Meine Erfahrungen und mein Wissen werde ich weiterhin in Form von Vorträgen, Beratung und Workshops weitergeben. Aber vor allem möchte ich Neues wagen und freue mich auf spannende Angebote und Ideen.
Ein großes Dankeschön!
Beim Einloggen in unser Redaktionssystem sehe ich jetzt nur noch meine 11.000 Texte, ich kann sie aber nicht mehr editieren. Nach über 20 Jahren ist mein Adminstatus weg. So ist das, wenn man geht. Das hier ist erstmal mein letzter Text auf netzpolitik.org.
Wenn ich jetzt auf meinen Screen sehe, fühle ich: einen Hauch Wehmut, denn netzpolitik.org war ein Traum, eine Gemeinschaft und ein riesen Spaß. All das wird mir fehlen. Ich fühle auch: Stolz – auf all das, was wir gemeinsam errungen und geschaffen haben. Und Aufbruchsstimmung: netzpolitik.org hat mich mutiger und stärker gemacht. Diesen Mut trage ich dankbar in meine neuen Projekte.
Deshalb möchte ich vor allem DANKE sagen: Ich konnte all dies auch nur machen, weil ich von vielen Menschen lernen konnte, ihr mich unterstützt und wir in Zusammenarbeit Berge versetzt haben. Manche von euch haben mitgebloggt und wurden später fester Teil der Redaktion. Andere haben uns als Praktikant:innen unendlich viel Arbeit abgenommen und sind in der Auseinandersetzung mit komplexen Themen als Journalist:innen beeindruckend gewachsen. Meine Teammitglieder:innen haben mir so häufig den Rücken freigehalten. So viele von euch haben uns mit Reichweite, Ideen oder Geld unterstützt.
Ohne viele Hinweisgeber:innen hätten wir nicht so viel berichten können und Jurist:innen haben uns bei vielen kleinen und größeren Konflikten beraten. Und unter anderem dafür gesorgt, dass André und ich nicht wegen Landesverrat im Gefängnis sitzen. Ohne euch wäre netzpolitik.org nicht das, was es heute ist. Ich danke euch von Herzen.
Ich bin nicht weg. Ich bin nur woanders.
Eine bessere digitale Welt ist immer noch möglich. Wir müssen dafür kämpfen.